„Ich bin nicht normal.“ Diesen Satz hatte sie schon unzählige Male gedacht und gesagt. Er klang schon so vertraut, dass sie die Feststellung gar nicht weiter begründete, sich oder anderen erklärte, worin ihre Abnormalität sich manifestierte oder weshalb sie sich als Außenseiterin fühlte.
Sie hatte keine genaue Erinnerung an das erste Mal, dass ihr der Gedanke gekommen war. Sie wusste auch nicht, ob er zuerst von jemandem anderen geäußert wurde. Die Erkenntnis war damals schockierend gewesen. Aus heiterem Himmel wurde ihre Person getrennt von der sich sie umgebenden Welt. Plötzlich gab es das Gefühl, von den anderen als anders, als nicht dazu gehörend wahrgenommen zu werden und tatsächlich anders, eine Außenseiterin zu sein. Nicht normal, das bedeutete, dass die anderen meinten, eine Veränderung wäre nötig, das Verkehrte müsse repariert, geheilt werden. Einmal ausgesprochen wurde bei ihr eine sich immer wiederholende Suche nach der Art und dem Grund dieses Anderssein in Gang gesetzt, gepaart mit Verwirrung und Scham.
Als sie zwei Jahre alt war, zog ihre Mutter mit den beiden Töchtern aus dem gemeinsamen Haushalt aus. Sie zogen in eine Stadt weit weg von der alten Heimat. Die Mutter vermied so weit es ging den Kontakt mit ihrem Mann. Somit blieb er ein seltener Besucher, der nett war, aber immer eine reservierte Haltung an den Tag legte, solange er mit der Mutter zusammen war. Meistens holte er die beiden Töchter ab und sie fuhren irgendwo hin. Sie muss als Kind die Spannung und die Abwesenheit von Sympathie gespürt haben, obwohl sie an die Anfangszeit keine richtige Erinnerung hatte. Die ältere Schwester konnte die Situation schon besser einordnen. Papa und Mama hätten sich öfter gestritten und sie hätten beschlossen, dass Papa anderswo wohnt. Sie nutzte die Situation auch aus, indem sie mit kleinen Bemerkungen an das Gewissen des Vaters appellierte und ihn zu Zugeständnissen oder Geschenken überredete, von denen sie wusste, dass ihre Mutter eher abgelehnt hätte.
Zu der Zeit war von einem Bewusstsein anders zu sein, noch nicht die Rede, ihre Welt war noch ausschließlich auf das Zuhause beschränkt. Die Außenwelt war ein unbekanntes Universum, in das sie sich nur hineinbegab im Schutze der elterlichen Begleitung. Es gab noch keine Vorstellung von dem, was normal war und was nicht. Aus Mangel an Vergleichsmöglichkeiten kam ihr das Familienleben nicht als „anders“ vor. Im Kindergarten lernte sie andere Kinder und neue Rituale kennen. Die große Anzahl der Kinder und die Erzieherinnen waren am Anfang einschüchternd, aber sie hatte bald eine Lieblingserzieherin und freundete sich mit ein paar Kindern an. Vom großen Trubel hielt sie sich fern.
Die ältere Schwester beschäftigte sich nicht sehr viel mit ihr. Der Abstand von fünf Jahren war zu groß, und der Schulbesuch gab dem Leben der Schwester einen anderen Rhythmus. Wenn die Mutter nachmittags irgendwo hinmusste, spielte die ältere Schwester bei einer Freundin. Sie selbst wurde regelmäßig mitgenommen zu den Terminen der Mutter, was meistens langweilig war. Diese Erinnerungen waren ihr schon oft durch den Kopf gegangen, aber sie konnte darin keinen Grund finden für ihr Anderssein.
Gestern war sie wieder in dem Gemeindezentrum gewesen. Jetzt wollte sie die ausgesägten Blumen bunt anmalen. Sie bedeckte den Tisch mit Zeitungspapier und breitete die Malutensilien aus. Sie machte ein Foto und schrieb dazu: „Gestern fein gesägt und getan im Gemeindezentrum. Heute viel besser, nur wenig Grau. Ich male alles schön bunt an.“ Sie hatte sich angewöhnt, täglich mitzuteilen, wie es ihr ging und was sie machte. Der Zuspruch ihrer Bekannten war eine notwendige Bestätigung. Mit der Wasserfarbe bemalte sie die Blumen in grellen Farben an. Sie brauchte Farbe in ihrem Leben.
Als sie alle Blumen bemalt hatte, arrangierte sie sie mit einem Zweig aus dem Garten auf dem Tisch zu einem Blütenzweig und machte wieder ein Foto. Sie schickte es los mit dem Satz: „Herrlich gebastelt. Fühle mich bunt wie die Blumen. Ein guter Tag heute.“ Danach räumte sie die Malutensilien weg. Am Abend kochte sie sich fast immer eine warme Mahlzeit, streng vegan. Ihr Magen geriet schnell in Aufruhr, was sie dann wieder in eine trübe Stimmung brachte.
Wann also war ihr die Erkenntnis gekommen, anders zu sein und von anderen als anders, als nicht normal angesehen zu werden? Es waren am Anfang vereinzelte Erlebnisse gewesen, die sich noch nicht zu einer festen Meinung verdichteten. Sie müssen aber einen tieferen Eindruck hinterlassen haben als der unter Kindern gängige Spruch „du bist blöd!“ Im Kindergarten konnte sie in mancher Hinsicht nicht mitreden, wenn die anderen Kinder von Filmen im Fernsehen erzählten. Bei den nachgespielten Szenen wusste sie nicht, welche ihre Lieblingsfigur sein sollte. Sie versuchte so gut es ging, mitzuspielen und guckte das Nötigste bei den anderen ab. Ihre engeren Freundinnen akzeptierten ihr Verhalten und erklärten ihr beim Spiel, um welche Geschichte es ging, wie die Personen hießen und welche Rolle sie spielten. Als ein Junge mitbekam, dass sie recht unwissend war, weil sie zu Hause keinen Fernseher hatten, rief er das laut in die Gruppe. Die Reaktion mit Gelächter und Staunen rückte sie mit dem „Defizit“ in den Fokus. Auch die beschwichtigenden Worte der Erzieherinnen konnten das Schamgefühl nicht ganz beseitigen. Allein schon der Umstand, in Erklärungsnot geraten zu sein, hinterließ ein nagendes Gefühl der Einsamkeit.
„Ob das der Anfang war?“ fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Für sich genommen war es zu wenig, um ihre anhaltende Depression zu erklären. Lange hat sie still gelitten und versucht, irgendwie durch den Tag zu kommen. Sie betäubte ihre Trauer und Zweifel gelegentlich mit Alkohol, obwohl sie wusste, dass es ihr anschließend noch schlechter gehen würde. Es hatte sehr lange gedauert, bevor sie die Einsicht, nicht ohne Hilfe aus dem Kreislauf des Absturzes und Hochrappelns herauskommen zu können, in eine aktive Suche nach Hilfe umsetzte.
Neben den Besuchen in dem Gemeindezentrum verbrachte sie viel Zeit im Garten. Sie hatte naturnahe Beete angelegt, einen Holzstapel für Insekten und andere Tiere, einen kleinen Teich und eine Ecke, in der eine Buddha-Figur auf einem kleinen Felsen thronte, umgeben von Kerzenlichtern. Für die Vögel hingen überall Nistkästchen. Nach der Arbeit in den Beeten machte sie Fotos und schickte sie herum, versehen mit einer Nachricht: „Heute den ganzen Tag im Garten. Eins mit der Natur, mein Inneres schwingt mit dem Wind und dem Vogelzwitschern.“
Wenn das Wetter schlecht war, musste sie Vorkehrungen treffen, um nicht ins Grübeln zu geraten. Das schwarze Loch lauerte immer im Untergrund. Sie machte dann Entspannungsübungen, kochte sich einen Kräutertee und versuchte, sich mit kleinen Basteleien oder mit Briefeschreiben zu beschäftigen. Auch aufräumen konnte helfen. So konnte es passieren, dass sie von jetzt auf gleich anfing, einen Raum umzugestalten, die Möbel umzustellen und die Dekoration zu erneuern. Das gab Gelegenheit, ein neues Bastelprojekt zu beginnen oder vorhandene Basteleien anders zu arrangieren. Blumenvasen hatte sie nicht. Sie mochte keine Blumen, die abgeschnitten waren, amputiert, wie sie es nannte, und die dann langsam verwelkten, vor sich hinsiechten. Das war deprimierend und deswegen nicht geeignet.
Als sie in die Schule kam, musste sie erfahren, dass ihre Freundin aus dem Kindergarten in eine Parallelklasse gekommen war. Sie sah sie nur in den Pausen und die Freundin hatte in ihrer Klasse neue Spielkameradinnen gefunden. In der Klasse geriet sie schnell ins Abseits. Einige Mädchen kannten sich schon länger und bildeten eine dominierende Gruppe, die Jungen waren für sie nicht interessant und teilweise sehr wild und rücksichtslos. Die Lehrerin mühte sich, eine harmonische Atmosphäre herzustellen, hatte aber große Probleme mit dem provokanten Verhalten der Jungen. Die fanden schnell heraus, wen sie ärgern mussten, um Unruhe zu stiften. Und so geriet sie in den Blick der Jungen. Immer wieder wurde sie heimlich oder auch offen attackiert. Ihre Sachen wurden weggenommen, sie wurde geschubst, ausgelacht. Es fanden Gespräche in der Klasse statt sowie mit den betroffenen Eltern, aber diese waren selber ziemlich ratlos. Erst als einer der Jungen wegzog, ließ der Druck nach. Sie war aber inzwischen in der Klasse zur Randfigur geworden. Zu Hause hatte sie von den Problemen nie etwas erzählt. Dass ihre Mutter einige Male zum Gespräch mit der Lehrerin gebeten wurde, war ihr peinlich, da sie erklären sollte, was sie nicht erklären konnte. Die Ratschläge der Lehrerin waren gut gemeint, brachten sie aber noch mehr in Bedrängnis. Sie solle doch in einen Sportverein gehen, vielleicht Selbstverteidigung lernen, es würde ihr bestimmt Spaß machen. Es machte ihr aber Angst, wieder einer Gruppe ausgeliefert zu sein, die sie nicht kannte, wieder Gefahr zu laufen, Ablehnung zu erfahren. Sie wollte Freundinnen, um mit ihnen zu spielen, drinnen wie draußen, beschützt und ohne Störungen.
Gestern war ihre Schwester zu Besuch. Das war immer ein zwiespältiges Ereignis. Einerseits tat es ihr gut, dass jemand aus der Familie das Band nicht abreißen ließ. So blieb gefühlsmäßig die Verbindung mit der Vergangenheit bestehen, das Gefühl der Zugehörigkeit aufrechterhalten. Durch die große Vertrautheit war es auch möglich, die Klippen zu umsegeln, die aufgrund ihrer Situation bestanden. Das bedeutete aber auch, dass die Gespräche in einer gewissen Oberflächlichkeit stecken blieben. Trotzdem war sie dankbar für die Geste der schwesterlichen Zuneigung. Zusammen mit ihrer Schwester traute sie sich mehr zu, wenn es in die belebte Stadt ging. Ihre Schwester machte auf sie einen selbstsicheren Eindruck im Umgang mit fremden Menschen und neuen Situationen, sie kannte sich im Gewirr der Einkaufsstraßen aus. Diesmal waren sie losgezogen, um einige Kleidungsstücke zu kaufen. Sie besaß nicht viel und legte auch keinen großen Wert auf modische Kleidung. Ihre Schwester konnte stundenlang shoppen, von Geschäft zu Geschäft schlendern, sich allerlei Sachen anschauen, um immer auch ein paar Kleidungsstücke zu kaufen. Das strengte an und es war gut, zwischendurch auf einer Terrasse oder drinnen eine Tasse Kaffee zu trinken. Schon nach drei Besuchen in verschiedenen Geschäften hatte sie gekauft, was sie brauchte, und die restliche Zeit ließ sie sich nur noch von ihrer Schwester mitziehen. Sie trafen auf der Straße eine Bekannte ihrer Schwester, die gerade zurück war aus dem Urlaub, und so begann ein langes Gespräch, bei dem sie kaum mitreden konnte. Sie machte ab und zu bestätigende Laute oder antwortete möglichst neutral, wenn sie angesprochen wurde. Inzwischen schaute sie sich um nach dem Geschehen in der Einkaufsstraße. Ein Mann und eine Frau, die erkenntlich auf der Straße lebten, saßen mit ihren Hunden auf einer Bank bei dem Brunnen und sprachen die Menschen, die vorbeigingen an. Wahrscheinlich bettelten sie um Geld. Sie fragte sich, was geschehen sein musste, dass diese Menschen so lebten. Waren sie normal? So wollte doch kein normaler Mensch leben!
In der Gruppe, mit denen sie im Internet in Verbindung stand, waren ausschließlich Personen, die sie schon länger kannte und die auch über ihr Leben Bescheid wussten. Sie bekam von ihnen aufmunternde und lobende Antworten auf ihre Mitteilungen. Etliche kannte sie aus der Selbsthilfegruppe oder aus dem Gemeindezentrum. Wenn sie selbst gemachte Gedichte über den Sinn des Lebens oder ihre Gefühlswelt postete, kamen Reaktionen wie: „Sehr schön! O wie wahr! So muss die Welt aussehen!" Sie suchte sich dazu Bilder von jungen Frauen aus der Fantasywelt, schönen jungen Frauen, fast nackt, gehüllt in Schleiern, durch einen Zauberwald schreitend oder Frauen mit Flügeln, die von Raben begleitet durch eine verzauberte Landschaft schwebten. Auch romantische Szenen an Wasserfällen, mit Kindern, Nymphen, Libellen und Schmetterlingen wählte sie öfter aus. Sie hatte selber einige Bilder mit einem Programm am Computer arrangiert und verändert, aber oft suchte sie sich im Internet entsprechende Bilder aus. Dazu schrieb sie Kommentare wie: „Wenn es sich anfühlt, als könntest du nicht mehr weiter, dann bedenke, dass die Kraft, die dich bis hierhergetragen hat, dich auch den restlichen Weg tragen wird.“ Die Reaktionen lauteten meistens in etwa: „Super! Genau so ist es! Halte durch! Viele Umarmungen!“ Ihre Antworten fielen oft euphorisch aus, in einer Sprache, die Fröhlichkeit ausdrücken sollte: „Allen vielen, vielen Dank für eure lieben, feinen, schönen … Reaktionen. Habe euch lieb, seid geknüffelt! Ich werde mal etwas herumwerkeln, tun, worin ich Lust habe; feinen sonnigen Sonntagabend, tschüssing!“
Ihre Schwester hatte sie auf ihre Art über die Periode aufgeklärt. Als sie ihre erste Blutung bekam, war sie zwar darauf vorbereitet, aber es war trotzdem ein einschneidendes Ereignis. Es löste Scham aus und musste geheim gehalten werden. Darüber wurde zu Hause nur in umständlichen Umschreibungen gesprochen. Ihre Mutter nahm sie mit zum Frauenarzt. Die ganze Prozedur war unangenehm, es war ihr sehr peinlich. Sie konnte mit der lockeren Art, mit der ihre Klassenkameradinnen untereinander das Thema behandelten, nicht mithalten und fiel somit auch dabei auf. Die anderen verstanden nicht, dass man über solche Sachen nicht reden wollte und nannten es prüde. Auch die Bemerkungen über Jungen, über Sex und die Andeutungen über Erlebtes brachten sie in Verlegenheit. Es war ihr klar, dass die meisten Erzählungen Angeberei waren, aber sie wagte es nicht, das zu sagen. Auf Fragen der anderen wusste sie nicht zu antworten. Sie konnte nichts beisteuern und es wurde schnell klar, dass sie auch in puncto Sexualität eine Außenseiterrolle spielte.
Die Schulzeit wurde stets mehr zur täglichen Herausforderung. Alle ihre Anstrengungen, sich in der Klassengemeinschaft zu behaupten, liefen ins Leere und sie schaffte es immer weniger, im Unterricht aktiv mitzuarbeiten. Sie meldete sich öfter krank, um dann ziellos durch die Umgebung zu wandern. Als es gar nicht mehr ging, ließ sie sich abmelden und begann eine Ausbildung als Gärtnerin. Aber inzwischen reagierte sie auf Anforderungen und Druck mit stiller Verweigerung. Sie meldete sich regelmäßig krank und blieb auch unentschuldigt weg. Nach und nach verlor sie jeden Antrieb, lag tagelang im Bett und fühlte sich elend. Als der Arzt meinte, das sei psychisch bedingt, wechselte sie die Praxis. Psychisch krank zu sein, stellte sie gleich mit Abnormalität. Sie wollte aber normal sein und gab den Umständen und anderen die Schuld, weil sie sie nicht akzeptierten und aufnahmen. Mehrere Versuche und Maßnahmen seitens des Arbeitsamtes scheiterten. Wenn an sie Anforderungen gestellt wurden hinsichtlich Tempo und Pünktlichkeit reagierte sie mit Krankheit. Sie musste einsehen, dass sie ohne Hilfe nicht weiterkam. Nach einer Einweisung in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses fühlte sie sich besser. Die Besserung war jedoch bloß vorübergehend, und bald hatte sie wieder lange Phasen, in denen sie kaum aus dem Bett kam und nur noch das Nötigste schaffte.
Im Gemeindezentrum hatte sie mit Perlen gebastelt, Anhänger und Ketten gemacht. Sie hatte hellblaue und durchsichtige Glasperlen gewählt, in verschiedenen Größen und Formen, einige größere in Herzform. Dazu schrieb sie: „Neben dem Anmalen von Postkarten und lustigen Blumen aus Knetmasse jetzt herrlich mit Perlen beschäftigt. Noch zwei Nächte schlafen und dann öffnet die ehemalige Schule im Ort wieder. Ein besonderes Ereignis und auch ich darf meine Kreationen wieder ausstellen. Hübsche Sachen unter fünf Euro, Karten, Blumen aus Knete und jetzt auch Perlenkreationen. Und neben meinen eigenen Sachen ist sehr viel Schönes zu sehen, absolut sehenswürdig.“ Sie freute sich auf die Möglichkeit, zu zeigen, was sie geschaffen hatte. Nach der Eröffnung der Ausstellung schrieb sie: „Feine Sache heute, auch wenn ich wieder schwer durcheinander bin. Sehr anstrengend. Viel Liebes und Küsschen für heute.”
Beigefügt hatte sie ein Foto von der von ihr gebastelte Perlenkette mit Herzen. Die Reaktionen waren überschwänglich und brachten zum Ausdruck, wie hübsch die Kette war und wie schön es war, dass sie an dieser Arbeit so viel Freude fand.
Nach mehreren Aufenthalten in Kliniken und Reha-Zentren wurde sie für erwerbsunfähig erklärt. Von da an lebte sie weitgehend abgekapselt in ihrer Welt, die aus der Gartenarbeit und den Besuchen im Gemeindezentrum bestand. Der restliche Kontakt mit anderen Personen war zum größten Teil beschränkt auf die Kommunikation über das Internet. Sie wehrte sich vehement gegen Versuche, sich erneut in eine Therapie zu begeben. „Die Leute von der Beratungsstelle hacken immer auf das gleiche Thema herum. Gesprächskreise, Beschäftigungstherapie, Sport, Gruppentherapie, ich habe es satt! Und alles mit Unterstützung von Chemie. Ich will keine Drogen. Immer wieder versuchen sie, mich in eine Richtung zu lenken. Die kommen aus ihrem behördlichen Dienst nach Vorschrift nicht raus. Jedes Mal wieder Formulare, Anträge und Therapie nach Stundenplan. Ich halte es nicht mehr aus.“
Sie konnte mit den Angeboten nichts anfangen, weigerte sich, sich auf die Therapien wirklich einzulassen. Sie verstand sie auch als Aufforderung, sich später wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Das Gefühl, gescheitert zu sein, verkehrte sich in Widerstand gegen von außen kommende Versuche, sie zu einer aktiven Mitarbeit zu bewegen. Sie wollte nicht „wieder fit gemacht“ werden, sie wollte nicht vorbereitet werden auf ein Leben mit Arbeit. Sie lehnte die Welt so wie sie war, ab und hatte Angst vor der Gewalt und den vielen Missständen, vor Krankheit und Hungersnot, vor der Ungerechtigkeit. Sie wollte nicht nach dem Leistungsprinzip und nach der Uhr eine Arbeit tun müssen. Sie wollte nicht zu einer solchen Welt gehören. Druck verursachte Unwohlsein und einen Sog in Richtung Mutlosigkeit. Das hatte sie alles schon gehabt, das war keine Option.
Ihre Welt war bestimmt von Gefühlen. Sie fand sich verstanden in Fantasy-Geschichten mit Wesen, die in Einklang mit geheimen Kräften und der Natur lebten, mit starken jungen Frauen, die für die Liebe kämpften. Sie suchte nach Harmonie, nach einem Zusammenleben von Mensch und Tier ohne Gewalt in einer schönen Natur. Männer kamen in dieser Welt kaum vor, es sei denn als edler Jüngling, der dem Bösen den Kampf angesagt hatte. Die Realität ließ sich nun einmal nicht mit dieser Traumwelt in Einklang bringen. Sie beharrte aber auf den Erhalt dieser Gefühlswelt. Auf Bemerkungen, dass das nicht normal wäre, antwortete sie: „Ich bin nicht normal, und ich werde es nie werden. Macht euch keine Mühe. Ich bin nicht normal.“
Nach Jahren mit Depressionen und vergeblichen Versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen, musste sie sich aber eingestehen, dass sie dem Unvermeidlichen nicht entfliehen konnte. Sie bekam Kontakt mit einem Verein, der sich einsetzte für Personen, bei denen die staatliche Hilfe und die der Krankenkasse keinen Erfolg gehabt hatten. Ein Hoffnungsschimmer flackerte auf. Der nie wirklich aufgegebene Wunsch, „normal“ zu sein, erhielt neue Nahrung. In einer für ihre Begriffe ausführliche und ehrliche Nachricht schrieb sie: „Ich bin glücklich. Etwa vor einem Jahr hatte ich mich entschieden, die Jahre lang andauernde „Behandlung“ abzubrechen. Wie die Berater selber sagten: Sie haben mehr kaputt gemacht, als dass sie mir weitergeholfen haben. Ganz meiner Meinung und endlich Anerkennung. Ich arbeite jetzt schon einige Zeit mit meiner Coach Maria, sie ist eine enorm gute Begleiterin und denkt auch mal ein bisschen alternativ: jemand, die besonders gut zuhören kann und mir ein feines Feedback gibt. Weiter habe ich in dem letzten halben Jahr enorm viel Zeit damit verbracht, weitere Unterstützung zu bekommen, worin mir Maria auch sehr viel hilft. Nach einigem Hin und Her haben wir es geschafft, dass sie mindestens drei Jahre bleibt. Wirklich sehr gut! Endlich brauche ich nicht ständig von Neuem irgendjemand die ganze Geschichte zu erzählen. Echt sehr gut!! Weiter habe ich nach einer Hilfe für im Haus und im Garten gesucht und jemand gefunden, der in einer Hilfsorganisation für integrative Arbeit tätig ist. Ich kann auch für wenig Geld Fertiggerichte ins Haus kommen lassen Riesige Auswahl, auch vegan. Auch Nachtisch. Werde bald meine erste Bestellung aufgeben. Ich habe das Gefühl, dass ich endlich festen Boden unter meinen Füßen bekomme. Ich fasse Mut und Vertrauen nach vielen schweren Jahren.“
Die Besuche im Gemeindezentrum blieben weiterhin ein wichtiger Bestandteil ihres Alltags. Sie bastelte und malte und beteiligte sich an kleinen Basaren und Ausstellungen. Für den Garten hatte sie jemanden, der ab und zu die schweren Arbeiten erledigte. Sie sandte eine Mitteilung an ihre Bekannten: „Schreibt hier unten etwas Nettes. Ich schreibe das dann auf einen Zettel und stecke den in eine Dose. Und wenn ich mich elend fühle, hole ich so einen Zettel raus.“ Eine neue Normalität hatte begonnen.
© 2021 Rodion Farjon