Die Weide liegt an einer kleinen Straße am Dorfeingang. Die Straße ist asphaltiert, aber der Belag wird schon brüchig. An manchen Stellen hat sich die Schicht gelöst, kleine Steinchen liegen auf der Fahrbahn, vom Frost und vom Regen aus der Decke herausgelöst. Allmählich erodiert der Asphalt und gibt an einigen Stellen die darunter liegenden Pflastersteine frei, mit denen die Straße ursprünglich befestigt wurde. Dunkelrote, teils bläuliche Klinker, auf der langen Seite hochkant gestellt und im Fischgrätmuster verlegt. Steine, hergestellt aus dem Kleiboden der Gegend und gebrannt in einem Ringofen. Jeder Stein ein Individuum, mit kleinen Farbnuancen, kleinen Formfehlern und Absplitterungen. Aber hart und unverwüstlich. Für den heutigen Verkehr nicht geeignet, sagt man. Sie tragen die schweren Fahrzeuge nicht und sind zu laut. Laut sind eigentlich nicht die Steine, sondern die Autoreifen.
Der Straßenrand ist ungepflegt, die Fahrbahn nicht eindeutig vom Seitenstreifen getrennt. Der wird zwar einmal im Jahr gemäht, aber weist doch ein Durcheinander an Kräutern auf. An einigen Stellen haben Autos, die von der Straße abgekommen sind, tiefere Spuren hinterlassen. Zum Graben hin, der die angrenzende Weide von der Straße trennt, ist der Bewuchs höher. Es gesellen sich Schilf, Weidenkerbel, kleine Sträucher und Baumschößlinge hinzu. Löwenzahn wächst am Straßenrand, ein totgefahrenes Tier liegt etwas versteckt im hohen Gras. Im Gestrüpp und im Graben, der weitgehend zugewachsen ist, liegen Plastiktüten und anderer Müll, zum Teil stark zerfallen und kaputt. Im spärlichen Wasser treiben halb untergetaucht ein paar Flaschen. Das Wasser ist trüb und schlammig, am Rand bedeckt mit treibenden Gräsern und Hahnenfuß. Eine Schicht aus abgestorbenen Pflanzenteilen bedeckt den schlammigen Boden, der so weich ist, dass man darin knietief versinkt und die Gummistiefel stecken bleiben. Der Graben führt rings um die Weide, wie auch alle anderen Weiden von Gräben umgeben sind. Sie bilden ein Netzwerk, das eine Verbindung hat mit einem breiteren Graben, dem sogenannten Zugschloot. Dieser mündet, wie auch die anderen Zugschloote, in einen Entwässerungskanal, der seinerseits über ein Sammelbecken in Verbindung steht mit einem Pumpwerk, welches das Wasser in die Nordsee befördert.
Die Weide ist rechteckig, einige Hundert Meter lang und etwa hundert Meter breit, mit der kurzen Seite zur Straße. Die an der Straße angrenzende Seite ist an einer Ecke abgeschrägt, da die Straße eine leichte Kurve macht, bevor sie das Dorf erreicht. An dieser abgeschrägten Ecke liegt die Zufahrt zur Weide. Der Graben ist hier verrohrt. Die landwirtschaftlichen Fahrzeuge haben tiefe Spuren in den weichen Boden gedrückt. An dicken Pfosten, bestehend aus gespaltenen Baumstämmen, hängt ein Zugangsgatter aus verzinktem Rohr. Es hängt schief in den Angeln und wird an der einen Seite mit einer Drahtschlinge um den Pfosten zugehalten. Links und rechts von den Pfosten schließt sich der Weidezaun an, der nur aus einem einzigen Stacheldraht besteht, der an rohen Holzpfosten befestigt ist, die in einem Zwischenabstand von etwa zehn Metern an der Innenseite des Grabens stehen. Einige dieser Pfosten, die aus Eichenholz hergestellt wurden, sind an der Grasnarbe schon bis auf einen Kern durchgefault und bieten dem Draht kaum noch Halt. Sie werden schon eher vom Draht aufrecht gehalten. An der Innenseite vom Tor ist die Grasnarbe völlig zertreten, es ist mehr eine schlammige Fläche, auf der sich die vielen Hufabdrücke der Rinder abzeichnen. Etwas mehr zur Weide hin ist ein spärlicher Bewuchs von Wegerich und kleinen Grasbüscheln. Hier und dort strecken Gänseblümchen ihre weißen Blütenköpfchen hoch. Die restliche Weide besteht aus nur ein paar Sorten Gras. Alle Kräuter sind rigoros ausgemerzt. Es herrscht nur ein eintöniges Grün, an manchen Stellen etwas höher, weil dort die Rinder aus einem bestimmten Grund nicht gefressen haben. Am anderen Ende der Weide befindet sich eine Tränke. Die Rinder können selber mit der Schnauze einen Pumpenhebel bewegen und so Wasser aus dem Graben hochpumpen. Der Graben ist an dieser Stelle etwas verbreitert und vertieft, so dass die Tiere einigermaßen klares Wasser bekommen.
Es stehen jetzt ausschließlich Färsen auf der Weide, junge Rinder, die noch keine Milch geben. Sie bleiben Tag und Nacht und für längere Zeit auf der Weide. Es sind Schwarzbunte, allesamt mit einer gelben Marke in beiden Ohren. Wenn sie grasen, bewegen sie sich langsam in einer Richtung, wobei zwischendurch eine leichte Rivalität zu bemerken ist bei der Frage, wer voran gehen darf. Zuerst schiebt sich eine Färse nach vorn. Dann drängt eine andere sich an sie vorbei, eventuell gefolgt von noch einer Rivalin. Entweder es kehrt wieder Ruhe ein, oder der Wettstreit geht weiter. Manchmal setzt ein Rennen ein, wobei alle Rinder in einem Pulk in einer Richtung galoppieren. Oft endet dieses Rennen vor dem Eingangsgatter. Dann war auf der Straße etwas Interessantes vorbei gekommen, wie zum Beispiel eine Reiterin, oder der Landwirt ist gekommen um nach dem Rechten zu schauen. Das Interesse lässt allerdings schnell nach und der Pulk zerstreut sich wieder. Beim Grasen meiden die Rinder die Stellen, an denen eine von ihnen in letzter Zeit uriniert oder einen Fladen produziert hat. An diesen Stellen wächst das Gras in den Tagen darauf höher. Auch können dort unter Umständen Kräuter keimen wie Disteln oder Brennesseln. Dann werden diese kleine Inseln auch weiterhin gemieden, was im Laufe des Jahres zu einer unerwünschten Verwilderung führt. Viele Stunden am Tag liegen die Färsen bequem herum und wiederkauen. Ihre Kiefer mahlen hin und her, ab und zu schlucken sie eine Portion herunter, wonach eine frische Portion zum Zerkauen hochgewürgt wird. Es ist harte Arbeit, die Nährstoffe aus dem Gras zu gewinnen.
In manchen Jahren bringt der Landwirt ein paar Pferde auf die Weide, die dort dann entweder für sich oder zusammen mit einigen Färsen ihre Tage verbringen. Es sind große fuchsfarbene Pferde, nicht für die Arbeit auf dem Land gedacht, sondern Reitpferde. Den Rindern begegnen sie mit Gleichgültigkeit, nur selten gibt es eine kurze Reiberei, weil ein Rind im Wege steht. Die Pferde geraten von Zeit zu Zeit in Unruhe, um dann über die Weide hin und her zu galoppieren und abrupt am Zaun zu bremsen. Ihr ungestümes Verhalten und lautes Prusten versetzt die Färsen in Aufruhr. Sie versuchen, den Pferden aus dem Weg zu gehen, kommen ihnen aber irgendwann in die Quere, da die Weide nicht all zu groß ist. Der Grund für diese Rennerei ist nicht ersichtlich, es kann aber sein, dass Bremsen zu lästig werden. Diese Plagegeister können schmerzhaft stechen. Kommt eine Reiterin auf der Straße vorbei, so verursacht das Aufregung bei den Pferden auf der Weide. Sie wiehern und traben zum Gatter und laufen am Graben entlang mit der Reiterin mit, bis sie nicht weiter können, weil die Weide zu Ende ist. Während die Reiterin sich entfernt legt sich die Unruhe. Ein letztes Mal trabt oder galoppiert eins der Pferde noch ein Stück über die Weide, scheucht noch einige Rinder zur Seite. Dann ist wieder Ruhe und alle grasen oder liegen herum. Manchmal steht eine Stute mit ihrem Fohlen auf der Weide. Mit staksigen Beinen stolziert das Fohlen umher, macht Luftsprünge oder rennt blitzschnell um die Mutter herum. Dann lässt es sich urplötzlich niederplumpsen um sich auszuruhen. Zwischendurch sucht es das Euter der Mutter auf und trinkt gierig, wobei das noch kurzbehaarte Schwänzchen rasant hin und her wedelt. Nicht immer ist die Stute geduldig und dann schubst sie das Fohlen mit dem Hinterlauf weg. Wenn Mutter und Kind sich im Liegen ausruhen wird es still auf der Weide. Sind mehrere Pferde da, wird die Rangordnung festgelegt. Wie bei den Färsen besteht eine Rivalität. Oft bewegen auch die Pferde sich während sie grasen gemeinsam in eine Richtung. Fast schon stiekum versucht dann eines einen kleinen Vorsprung zu gewinnen, obwohl es für alle Gras genug gibt. Es geht aber darum, buchstäblich die Nase vorn zu haben. Ein zweites Pferd, das die Führung beansprucht, macht jetzt ein paar schritte vorwärts, was beim ersten Pferd eine gleiche Reaktion auslöst. Das Leittier macht durch das Anlegen der Ohren, durch Schnaufen und Kopfschütteln klar, dass das ndere Pferd sich zurückzuhalten hat. Dieses subtile Spielchen kann einige Zeit so weiter gehen, bis das Leittier eingreift und seine Stellung verteidigt, indem es das andere Pferd kurz abstraft. Ein gezielter Rempler, ein angedeuteter Biss bringen wieder Ordnung in die Gruppe. Selten kommt es zum Kampf mit Treten und Beißen.
Es gibt nicht viele Tierarten, die in dieser eintönigen Umgebung dauerhaft leben können. Bedingt durch die Dorfnähe fallen ab und zu einige Dohlen ein, lärmende Gesellen, die hoffen, dass die Rinder oder Pferde ein paar Insekten aufscheuchen. In den Kraut- und Schilfstreifen am Graben leben im Sommer einige Kleinvögel, wie Rohrammer und Schilfrohrsänger. Ein Stockentenpaar brütet am Wasser im hohen Schilf. Bei schönem Sommerwetter kreisen hoch oben am Himmel einige Mäusebussarde und lassen sich unter lautem Rufen von der Thermik immer höher tragen. Die restlichen Bewohner, wie Mäuse, Ratten und Nutrias lassen sich nur selten blicken. Die Weide bekommt regelmäßig Besuch von den Katzen aus dem Dorf. Sie schleichen durch das Gras, auf der Jagd nach Mäusen. Lange können sie bewegungslos stehen bleiben, gespannt auf einen Punkt starrend. Von den Rindern halten sie sich fern. Der Landwirt hat im Frühjahr, bevor die Rinder auf die Weide kamen, den Zaun geprüft. Dazu ist er am Graben entlang rings um die Weide gelaufen, hier einen Pfosten mit einem großen Holzhammer fester in den Boden treibend, dort den Stacheldraht stramm ziehend und mit einer Krampe befestigend. Auch die Funktion der Wasserpumpe wurde überprüft.
Wenn es regnet werden die Aktivitäten heruntergefahren. Die Kleinvögel bleiben verborgen im Schilf, die Dohlen verziehen sich ins Dorf und die Rinder stehen die meiste Zeit mit dem Hinterteil zum Regen, der vom Wind über die Weide gefegt wird. Wenn dann der Herbst ällmählich zu nass und zu kalt wird und das Gras nicht mehr wächst, werden die Tiere abgeholt. Es wird still auf der Weide, es lässt sich kaum noch ein Tier sehen. Die Dohlen fallen ab und zu noch ein, ansonsten herrscht Ruhe, eine etwas traurig stimmende Ruhe. Nur selten verwandelt sich diese dunkle Stimmung in eine klare, sonnenbeschienene Stille, nämlich dann, wenn es ausnahmsweise einmal geschneit hat und die Sonne alles hell erstrahlen lässt. Im Schnee werden plötzlich Spuren sichtbar, die verraten, dass es doch noch Tiere gibt, die der Weide ab und zu einen Besuch abstatten. Ein Hase hat die Weide überquert, ein Graureiher hat die Grabenkante nach Ratten und Mäusen abgesucht. Lange bleibt der Schnee aber nicht liegen, nach einigen Tagen setzt wieder Schmuddelwetter ein und alles ist grau und nass. Bis dann, erstaunlich früh, die Kätzchen vom Haselstrauch länger werden und der gelbe Blütenstaub durch die Luft schwebt.
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