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Warten


Beim Arzt war weniger los als gewöhnlich. Aber trotzdem dauerte es lange, bevor der oder die Nächste aufgerufen  wurde. Das Fenster im Wartebereich stand auf Kippe, was für frische Luft sorgte, aber auch einen Durchzug verursachte, der für die Wartenden beim Fenster unangehehm war. Ein älterer Herr kam in den Wartebereich und setzte sich auf einen freien Platz unterhalb des Fensters. Er grüßte kurz in die Runde. Einige Patienten erwiderten den Gruß.    
„Jemand etwas dagegen, wenn ich das Fenster schließe?“ fragte der ältere Herr.    
Ein leichtes Murmeln der Anwesenden schien zu bedeuten, dass man keine Einwände hatte. Der Mann stand auf und schloss das Fenster.    
Ein zweiter Herr fing ein Gespräch an:    
„Dauert wieder lang heute.“    
Obwohl er sich niemandem speziell zugewandt hatte, war klar, dass er sich in erster Linie an den Herrn richtete, der das Fenster geschlossen hatte. Das Gespräch nahm Fahrt auf.    
„Ist immer. Die kriegen das wohl nicht besser geregelt. Komme hier schon Jahre lang hin. Ist immer das selbe.“     
„Auch wegen Spritze?“    
„Ja, schon seit acht Jahren.“    
„In Laar kriegen die das besser hin. Rein, Kontrolle, raus. Halbe Stunde. Bekommen Sie Akronal oder Dirumat?“    
„Nee, Akronal. Das andere hat nicht geholfen. Aber schon acht Jahre. Wird nicht besser. Aber auch nicht schlechter. Ist immerhin etwas. Der Arzt sagt, ohne wäre schon längst Ende.“     
„Hab‘ eine Jodallergie. Hatte immer tagelang Schmerzen.“    
„Ich hab‘ gleich gesagt, dass ich kein Jod vertrage. Hab’s zwar nie probiert, aber mein Bekannter sagte, dass er was anderes bekommt vanwege Allergie. Da habe ich gedacht, das riskierst du gar nicht erst.“    
„Waren Sie immer bei Doktor Schmidt?“    
„Nee, am Anfang war hier noch Doktor Benjamins. Ist aber auch schon tot.“    
Eine Arzthelferin lief vorbei und ging in das Behandlungszimmer.     
„Immer mehr von diesen jungen Dinger.“    
„Sind neu hier. Sind wohl Lehrlinge. Öfter mal was Neues.“    
„Ist Herr Doktor Blume noch da?“    
„Nee, der ist im Februar in Pension gegangen, oder was die Ärzte so kriegen. Ist jetzt ein junger Arzt da, ein Marokkaner, glaube ich. Aber spricht gut Deutsch.“        
„Hauptsache er kann was.“    
„Darf ich das Fenster kurz auf Kipp machen? Ist so stickige Luft hier drin,“ meldete sich eine Frau, die auch schon von Anfang an wartete.    
Der ältere Herr stand auf und öffnete wortlos das Fenster. An den anderen Herrn gerichtet sagte er: „Bin nun schon drei Jahre alleine. Früher hat meine Frau mich immer gebracht und wieder abgeholt. Jetzt muss ich jedes Mal ein Taxi nehmen. Darfst ja mit dem Augenverband nicht fahren. Lästig.“        
„Kriegst von der Kasse wieder.“    
„Nee, dachte ich auch. Aber da ist was mit Bedürftigkeit und so. Ist auch nicht weit. Im Sommer gehe icht zu Fuß. Manchmal ist meine Tochter da.“    
Es entstand eine kurze Pause. Die Tür vom Behandlungszimmer ging auf und eine Patientin wurde aufgerufen.    
„Aha, es tut sich was.“    
„Mal sehen, wann ich dran komme. Geht hier nicht der Reihe nach. Ich habe schon erlebt, dass vier Leute vor mir dran kamen, obwohl sie später gekommen sind.“    
„Wie lange sind Sie schon in Rente?“    
„Oha, lass mich nachdenken. Ist schon lange her. Bin früher gegangen, als die Firma schloss. Gab eine gute Abfindung. Die haben die Firma damals an die Wand gefahren. Sie wurde übernommen und saniert. Also wurden die meisten Leute rausgeworfen. Ist heute nicht mehr so wie früher. Da haste in einem Betrieb als Lehrling angefangen und bist da geblieben bis zur Rente.“    
„Azubi. Auszubildender, heißt das jetzt.“    
„Hab‘ jetzt schön viel Zeit für den Garten. Bringt genug, um mich selbst zu versorgen. Kartoffeln, Bohnen, Kohl. Spart ‘ne Menge Geld.“    
„Ich kann nicht mehr so. Rheuma in den Knochen. Schlucke täglich Tabletten. Was ich noch machen kann ist Rad fahren. Ich habe mir so’n elektrisches zugelegt. So auf seinen alten Tagen braucht man doch ein bisschen Hilfe.“    
„Das ist wohl modern. Elektro-Autos, Elektro-Fahrräder. Das wollen die Grünen so. Wegen dem Klima und die Umwelt. Aber da gibt es auch Spinner.“    
„Ja, und uns wollen sie das Fleisch verbieten. Alles Vegetarier. Aber ich mag meinen Sonntagsbraten trotzdem.“    
„Gibt auch Veganer. Die tragen nicht mal Lederschuhe. Und Eier. Die essen keine Eier. Und Alkohol auch nicht. Da kannste doch gleich abdanken.“    
„Na ja, zu viel ist auch nicht gut. Die Leute werden alle zu dick.“    
„Ich kann mir so ein Elektro-Auto nicht leisten. Ich fahre sowieso nicht viel mehr. Nur noch kurze Strecken. Und im Dunkeln schon gar nicht.“    
„Wenn die Grünen gewinnen darf keiner mehr Auto fahren. An die vielen Arbeitsplätze denken die nicht. Und der Chinese freut sich.“    
„Ja, das sind Händler. Und kopieren alles. Die ganzen Handys und so kommen alle von dort. Ich hab‘ gar keins. Kann damit nicht umgehen. Dieser ganze Kram. Und alles viel zu klein. Mein Enkel hat mir das schon ein paar Mal gezeigt. Er meint, ich brauche so’n Ding als Notruf. Der hat das Ding  ständig vor der Nase. Läuft auf der Straße gegen den Laternenpfahl, weil er nur auf das Ding starrt. Ich will so’n Ding nicht haben.“    
Im Wartebereich hantierten fast alle Patienten mit ihrem Handy. Ob sie etwas von dem Gespräch mit bekamen war nicht ersichtlich.    
„Bayern wird wohl schon wieder Meister. Ist allmählich langweilig.“    
„Ich interessiere mich nicht für Fußball. Ist doch alles Geldmache. Die verdienen Millionen. Und dann die ganzen Skandale.“    
Der ältere Herr, der unter dem Fenster saß, stand auf und schloss das Fenster. Er negierte den bösen Blick der Frau, die darum gebeten hatte, das Fenster zu öffnen. Sie wagte sich aber nicht, etwas zu sagen.     
Der Mann griff ein Thema aus dem bisherigen Gespräch wieder auf.    
„Wie das noch weiter geht mit dem Klima? Ich glaube nicht so direkt daran. Die sagen es wird immer wärmer. Merke ich nicht viel von. In den letzten Tagen war es kälter als sonst. Sonst sind meine Kartoffeln schon so hoch. Jetzt kommen sie gerade mal raus. Wenn es jetzt auch noch zu trocken wird wachsen die kaum.“    
„Das mit der Tockenheit soll ja vom Klimawandel kommen.“    
„Ach was, das gab es immer schon mal.“    
„Die Landwirte hatten aber im letzten Jahr große Ernteausfälle.“    
„Die Bauern haben immer was zu klagen. Erst ist es  zu nass, dann ist es  zu trocken, erst ist es zu kalt, dann kommt der Hagel.“    
„Fahren Sie im Sommer irgendwo hin?“    
„Urlaub? Nee, eigentlich nicht. Ich hab‘ ja den Garten. Den kann ich nicht allein lassen. Wenn ich da nicht immer wieder was tue, überwuchert das Unkraut alles.“    
„Ich mache so Städtereisen. Ein verlängertes Wochenende, oder eine Woche. Da gibt es sehr gute Angebote mit allem drum und dran. Luxus Bus, gutes Hotel. Ich war letztes Jahr in Sankt Petersburg. Sehr schöne Stadt.“    
„Pauschalreisen also.“    
„Ja. Da brauchst du nicht selber hinter allem her. Ist alles bis ins Detail geregelt. Plus Gepäck- und Reiserücktrittsversicherung.“    
Die Tür des Behandlungszimmers ging auf. Die Frau, die beim Arzt war, kam heraus. Mit ihr kam der Arzt in den Wartebereich und bat den älteren Herrn mit zu kommen.     
„Na, dann mach‘ es mal gut,“ verabschiedete sich dieser.    
„Ja, bis zum nächsten Mal,“ sagte der andere. Dann fiel ihm ein, dass sie sich beim Wechsel noch sehen würden. Aber die Tür vom Behandlungszimmer war bereits zu.      

© 2021 Rodion Farjon


In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.

Ich hoffe, die Beiträge machen neugierig auf mehr.

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