Auch nach vier Jahren hatte sie sich nicht daran gwöhnt; immer noch fand sie es lästig, bei Regenwetter die Regenkleidung anzuziehen. Obwohl sie atmungsaktiv war und man garantiert nicht schwitzen würde, wie die Werbung behauptete, war es nur eine Frage der Zeit und der Umstände, wann sie innen genau so nass war wie außen. Regen und Wind gehörten zusammen, und sie hatte das Gefühl, immer Gegenwind zu haben. Ein Gefühl, das jeder kannte, auch wenn es nicht stimmte. Wenn sie nach Hause kam, musste sie erst einmal aus den Klamotten raus und duschen.
An ihrer Arbeitsstelle hatte sie trockene Sachen, die sie anziehen konnte. Sie fuhr so oft es möglich war mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder zurück nach Hause.
Ihr Weg führte zuerst ein Stück an der Landstraße entlang. Der Radweg war nicht gut ausgebaut, der Belag war rissig und die Seiten waren vom Gras überwuchert. Dazu kam, dass er in beide Richtungen genutzt wurde. Es wurde sehr eng, wenn einer entgegen kam. Da zeigte sich, dass für den Fahrradverkehr nur wenig getan wurde.
Etwa nach zwei Kilometern fing nach rechts ein landwirtschaftlicher Weg an, der zuerst durch die Wiesen und Äcker führte. Sie nahm diesen Weg fast immer. Nur im Winter, wenn es dunkel wurde, oder wenn Schnee lag, blieb sie auf der Landstraße. Das war ziemlich langweilig und auch laut, wenn Autos vorbei fuhren. Der andere Weg bot Gelegenheit, mehr von der Umgebung und der Natur zu sehen. Im Frühjahr, wenn es allmählich grünte, war die Luft frisch, es roch nach Gras und Freiheit und sie konnte viele Tiere beobachten. Selbst ein Fuchs war ein paar mal ein Stückchen vor ihr her getrottet, um sich dann, als er sie bemerkte, schnell seitwärts in die Landschaft zu verdrücken. Erstaunlich, wie gut und wie schnell er sich unsichtbar machen konnte, trotz seines roten Fells. Gänse zogen vorüber, sie konnte an ihrem Ruf hören, ob es sich um Graugänse oder um Weißwangengänse handelte.
Im Sommer hörte sie an bestimmten Stellen die Rufe der Kiebitze und sogar noch den Gesang einer Feldlerche, die hoch in der blauen Luft stand. Manchmal fuhr ein Trecker auf dem Weg. Dann musste sie absteigen und zur Seite gehen. "Die Maschinen werden auch immer größer“, dachte sie.
Diese Fahrt durch die Felder war, auch wenn es wegen des Windes manchmal anstrengend war, erholsam. Auf dem Hinweg zur Arbeit konnte sie einige Fragen durchdenken und die zu erwartenden Aufgaben strukturieren. Auf dem Rückweg kamen Bruchstücke von Geschehnissen des Tages ins Gedächtnis zurück. Da ordnete sich einiges fast von selbst, wurde Nebensächliches vom Wichtigen getrennt und sie erlangte Klarheit.
Nach ungefähr drei Kilometern bog sie an einer Kreuzung nach links ab. Dort stand ein verwittertes Schild mit dem Hinweis „Fischteiche“. Früher gehörten die zu einem Kloster, das allerdings schon seit Jahrhunderten geschleift war. Man sagte, die Steine seien in den alten Bauernhöfen der Umgebung noch am abweichenden Format zu erkennen. Jetzt lagen die Fischteiche mitten im Wald, durch den der Weg nun führte. Schon nach einigen Metern veränderte sich der Geruch. Unter den großen Buchen war kaum Bewuchs, eine dichte Decke von abgestorbenen Blättern bedeckte den Boden. Im Frühling genoss sie das Grün der sich gerade entfaltenden Buchenblätter. Wenn die Sonne hindurch schien war das ein wunderschöner, klarer Farbton, hellgrün leuchtend. Im Herbst wurde der Modergeruch stärker. Es war aber kein unangenehmer Geruch, Sie meinte immer, es würde nach Pilzen riechen. Und manchmal war es wirklich eindeutig ein Pilz, der sich mit seinem penetranten Duft bemerkbar machte. Das war dann eine Stinkmorchel.
Der Weg war nicht gepflastert und somit gab es Stellen, an denen der Boden locker war. Da musste sie ganz am Rand fahren. An anderen Stellen bildeten sich schnell Pfützen. Auch da musste sie an den Rand fahren, entweder durchs Gras oder durch den mit Radspuren gezeichneten Schlamm. Sie war meistens so gut wie allein, es gab nicht viel Verkehr. Ab und zu ein Radfahrer oder ein Wanderer und manchmal ein Fahrzeug von der Forstverwaltung. Der Weg war für Autos gesperrt.
Links lagen, etwas vom Weg entfernt, die alten Fischteiche. Viel war dort nicht los, an vielen Stellen waren sie verschlammt und das Ufer war mit Büschen zugewachsen. Sie nahm sich öfter vor, dort einmal etwas länger zu bleiben und die Teiche zu erkunden. Aber nach der Arbeit fehlte ihr die Zeit und die Motivation. Am Wochenende müsste sie sich mal aufrappeln und einen langen Spaziergang machen…
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Das war der Zeitpunkt, an dem sie entscheiden musste, ob sie anhalten sollte um die Regenkleidung auszuziehen, oder ob sie sie anbehalten sollte. Lohnte es sich, sie auszuziehen? Dann würde es bestimmt wieder anfangen zu regnen. Aber wenn es trocken blieb, hatte sie die ganze Zeit die schwitzigen Sachen am Leib. Letztendlich behielt sie die Regenkleidung an, weil sie zu faul war abzusteigen, die Sachen auszuziehen und zu verstauen, um dann wieder weiter zu fahren. Zudem war es unangenehm, verschwitzt wie sie war, dem Fahrtwind ausgesetzt zu sein. Da müsste sie sich eigentlich gleich umziehen oder zumindest eine trockene Jacke überziehen, worunter sie dann fröhlich weiterschwitzen würde. Also: Regensachen anbehalten und weiterfahren. So weit hatte sie es auch nicht mehr.
Es kam ein langes gerades Stück des Weges, das leicht abschüssig war. „Nicht schlecht, Herr Specht“ dachte sie. Weit voraus entdeckte sie einen Spaziergänger, der in ihre Richtung kam. „Ein Mann“ dachte sie. Sie bemerkte, wie sie sich innerlich anspannte. „Quatsch!“ dachte sie. Als ob die Tatsache, dass dort ein Mann lief, eine Bedrohung darstellte. Aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie auf der Hut war. Als Frau war es nun einmal objektiv riskant, allein auf einsamen Wegen unterwegs zu sein. Es gab genügend Fälle, in denen Frauen überfallen worden waren. In ihrem Kopf tauchten Bruchstücke von Filmen aus Fernsehserien auf. Aus diesen Beispielen wusste sie, dass es so gut wie sinnlos war, eine Waffe oder einen Spray dabei zu haben, da der Angriff, wenn er denn kam, unberechenbar war. Und vor allem auf dem Fahrrad war sie angreifbar. Wenn sie stürzte, konnte sie sich sowieso nicht verteidigen. Und Zeit, um die Spraydose hervor zu holen, würde ihr höchstwahrscheinlich auch nicht bleiben. Lautes Rufen könnte helfen. Aber hier im Wald? Selbst wenn jemand sie hörte, würde es dauern, bevor Hilfe kam. „Aber Schluss damit“ dachte Sie. „Man kann doch nicht jeden Mann verdächtigen oder misstrauen, nur weil er ein Mann ist. Das da ist bestimmt ein harmloser Spaziergänger.“
Sie war inzwischen näher gekommen und versuchte, ganz normal weiter zu fahren. Aber ihr Blick war stur geradeaus gerichtet. Sie nahm weniger von der Umgebung war, konzentrierte sich auf die Begegnung. Dann hörte sie, wie der Mann pfiff, und aus dem Gebüsch ein Stück hinter ihm tauchte ein Hund auf, der zu seinem Herrchen rannte. Der mann griff das Halsband und hieß den Hund sitzen. So wartete er, bis sie an ihm vorbei fuhr. Er grüßte kurz. Sie grüßte zurück. Sie wusste, dass der Mann jetzt den Hund wieder laufen lassen würde und seinen Spaziergang fortsetzte. Und trotzdem zählte sie die Sekunden und maß den Abstand, den sie zurücklegte, bevor die Anspannung von ihr abfiel. Sie spürte den Drang, sich umzuschauen, aber wusste gleichzeitig, dass das unsinnig war. „Verdammter Mist, stell dich nicht so an! Es ist doch nichts passiert. Wovor hast du denn noch Angst? Der läuft ganz normal weiter.“
Sie konnte sich jetzt wieder auf den weiteren Weg konzentrieren. Nach einer Kurve kam ein Stück, dass nasser war und auf dem sie öfter Pfützen ausweichen musste. Links und rechts standen junge Birken, nicht höher als fünf Meter. Dahinter war ein Graben und dahinter standen Fichten. Ein dunkler Wald ohne Unterwuchs. „Eigentlich gar kein Wald“ dachte sie, „eine Fichtenplantage.“ Dann sah sie voraus eine Person laufen. Sie lief in die gleiche Richtung in die sie fuhr. Müsste eine Frau sein. Als sie noch etwas näher kam, sah sie den Pferdeschwanz auf und ab hüpfen. Die Joggerin war in einem eng anliegenden Sportanzug gekleidet. „Wäre mir zu kalt“ dachte sie. „Aber die läuft sich ja warm.“ Beim vorbeifahren hielt sie einen größeren Abstand ein. Auch sie fand es unangenehm, wenn jemand ihr von hinten zu nah kam. Dazu kam noch, dass die Frau Ohrstöpsel trug und Musik hörte. Als sie vorbei fuhr grüßte sie. Die Frau reagierte etwas verschreckt und schaute kurz zur Seite. Ob sie den Gruß erwiderte konnte sie nicht hören.
„Die wird dem Mann auch begegnet sein und ihr ist auch nichts passiert. Und sie wird hier wohl öfter joggen, obwohl ich sie noch nicht eher gesehen habe.“ Das Thema blieb in ihren Gedanken präsent, während sie das letzte Stück des Waldweges zurücklegte. Der Regen hatte wieder eingesetzt, war aber nicht schlimm. Ihr war es inzwischen sowieso egal, ob es regnete, sie war auch unter der Regenkleidung nass, wie immer, wenn sie sich abgestrampelt hatte. Am Ende des Weges umrundete sie den Schlagbaum, der den Weg für Autos sperrte und fuhr auf die asphaltierte Straße, die in den Ort führte. Das Fahren war dort leichter, aber die Autos hielten nicht immer genügend Abstand. Im Ort musste sie noch einige Male abbiegen, bevor sie zu Hause war. Dort stellte sie das Rad ab und ging hinein. Als sie sich umgezogen hatte, fing die Routine des Abends an.
© 2020 Rodion Farjon