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Lebenswege


Irgendwie passte es nicht zusammen. Ihr war ein Leben im Einklang mit der Natur sehr wichtig, aber seiner Wahrnehmung nach vertrug ihr Lebensstil sich nicht gut mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Marisa gehörte zu den Personen, deren Lebensweg er aus einer bestimmten Entfernung begleitete. Der Kontakt war nicht intensiv, aber er spürte eine gewisse Neugier nach ihrem Befinden. Ab und zu erkundigte er sich danach, wie es ihr ging. So überlegte er jetzt, während er auf dem Weg nach Hause war, mal wieder vorbeizuschauen.

Sie hatte sich von ihrem Lebensgefährten getrennt, einem Lebenskünstler, der viele Ideen hatte, und der, wenn er anfing, sie umzusetzen, an den unbedachten Konsequenzen oder an dem ins Uferlose wachsenden Anforderungen scheiterte. Er verstand sein Tun als eine Symbiose aus Kunst und Bautätigkeit. Er sammelte allerhand Maschinen, Motoren, Fenster, Türen und andere Bauteile, um sie in einem Wiederverwertungsprozess nutzbar zu machen. Allerdings stand der Anteil gelungener Projekte nicht annähernd in einer ausgeglichenen Relation zu den sich anhäufenden Stapeln ungenutzter Teile, die, teilweise von Brennnesseln und Brombeeren überwuchert, überall auf dem Grundstück oder in windschiefen Schuppen auf eine Verwertung warteten, die niemals kam.

Was der eigentliche Grund für ihre Trennung war, hatte er nie herausgefunden. Aber wahrscheinlich war ein Zusammenleben zweier chaotisch veranlagter Personen ein bisschen zu viel Chaos. Sie hatte sich ein altes Haus gemietet, mit einem großen Grundstück und einem Anbau, den sie als Stall benutzte für die Pferde, für einen Esel und für eine stetig anwachsende Schar von Hühnern. Des Weiteren liefen mehrere Hunde und eine unbekannte Anzahl an Katzen herum. Das Haus lag abseits in der Landschaft, sodass sie schalten und walten konnte, wie sie wollte. Obwohl sie ihre Menagerie nicht als Gnadenhof ansah, war er faktisch ein solcher. Sie nahm immer wieder mal Tiere auf. Einen finanziellen Nutzen hatte sie von all dem nicht, sie verkaufte lediglich die Eier, die die Hühner in schwankender Zahl legten. Sie betrieb den Verkauf jedoch nicht gewerblich, geschweige denn, dass sie von Zeit zu Zeit einige Hühner verkaufte oder schlachtete. Die Folge war, dass der Allgemeinzustand vieler Tiere nicht optimal war. Es war auch finanziell eine Gratwanderung. Ihr Geld verdiente sie mit Seminaren und Kursen über Naturheilkunde. Darüber hinaus war sie gut im Erbetteln von Spenden und manueller Unterstützung. Sie fühlte sich durchaus berechtigt, für ihren Einsatz gegen das Tierleid eine Kompensation von der Allgemeinheit zu verlangen.

Die vielen Tiere verschlangen eine große Menge Futter, das sie mit ihrem alten Kombi heranschaffte oder von einem Landwirt bringen ließ. Die Eier der Hühner verkaufte sie an Bekannte oder brachte sie zur Tafel in der Stadt, ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht registriert waren. Wenn ein Tier krank wurde, griff sie zu Mitteln der Naturheilkunde. Wenn das nicht half, musste der Tierarzt kommen. Da das teuer war, verschleppte sie öfter eine rechtzeitige Behandlung, was schon einmal Ärger gegeben hatte.

Ein großes Problem bestand in der nicht sachgerechten Entsorgung der vielen Abfälle. Sie brachte sie zu einem stetig anwachsenden Berg, der sich hinten auf dem Grundstück zwischen Bäumen und Sträuchern befand. Daneben war im Laufe der Jahre ein Tierfriedhof entstanden. Alle Hunde, Katzen und Hühner, die das Zeitliche segneten, wurden dort begraben.

Sie hatte keinen Gemüsegarten, in dem sie den Mist hätte verwerten können. Es war ihr nicht möglich, die Zeit aufzubringen, die nötig wäre, um einen solchen Garten in nennenswertem Umfang zu beackern. Zudem war sie nicht diszipliniert genug, um das ganze Jahr hindurch viele Stunden in der Erde zu wühlen. In ihrer Euphorie des Anfangs, als sie noch mit ihrem Lebensgefährten zusammenwohnte, hatte sie ein Gemüsebeet angelegt. Die Unerfahrenheit und der fehlende Einsatz bescherten eine nur mickrige Ernte mit vielen von Schnecken und Insekten angenagten oder durchbohrten Möhren, Radieschen und anderen Gemüsepflanzen. Nach einem solchen Misserfolg ließ sie von der Tätigkeit ab. Sie hatte nicht den Willen, sich durch intensive Arbeit die nötigen Kenntnisse anzueignen, sondern kapitulierte vor den Anforderungen und verfolgte das Vorhaben nicht weiter. Diese Haltung bewirkte, dass ihr Anwesen für Außenstehende einen verwahrlosten und ziemlich chaotischen Eindruck machte. Eigentlich war es erstaunlich, wie sehr sich die Existenzen Ihres Lebensgefährten und ihr eigenes glichen. Sie behauptete, sie hätte es nach mehreren Jahren nicht ausgehalten, gegen eine zunehmende Zahl von Aufgaben ankämpfen zu müssen. Ständig musste sie hinter ihrem Lebensgefährten herräumen. Der Haushalt blieb an ihr hängen, kochen war ihre Aufgabe. Zudem meckerte er von Zeit zu Zeit über das vegane Essen und holte sich im Imbiss seine Portion Fleisch in Form einer Currywurst oder eines Döners. Zu Hause aß er dann nicht mit, behauptete keinen Appetit zu haben, was natürlich stimmte. Ebenso störten ihn die Tiere, die ihm einen Teil des verfügbaren Platzes wegnahmen.

Um Marisa zu besuchen, musste er am Hof ihres Lebensgefährten vorbei. Er spürte aber kein Bedürfnis, dort anzuhalten. Es war sowieso fraglich, ob der anwesend wäre.

Beide kannte er schon aus der Zeit, dass sie alle auf der Suche waren nach der Wahrheit und nach Gerechtigkeit. Sie überlegten damals, wie man eine Gemeinschaft gründen könnte, in der sie die Prinzipien von Gleichberechtigung, Gemeinsinn und Umweltverbundenheit umsetzen konnten. Es hatte viele Ideen und Diskussionen gegeben, in denen es stets um eine Wohngemeinschaft ging, die weitgehend autark sein sollte. Nach einiger Zeit verflog die Begeisterung immer mehr, um Platz zu machen für die kleinen und großen Differenzen in der Auffassung dessen, was essenziell wäre und was man tolerieren wollte. Diejenigen, die schon einen Beruf ausübten, waren nicht bereit, ihn aufzugeben, falls man beschließen sollte, anderswo hinzuziehen. Gleichfalls prallten bei ihnen und den anderen die Vorstellungen über die gemeinschaftliche Finanzierung aufeinander. Eine Einigung über den Wert verschiedener Formen der Beteiligung scheiterte an der prinzipiellen Frage, ob ein geistiger oder kultureller Beitrag bezifferbar wäre und wie die Arbeit im Haushalt oder im Garten zu bewerten sei. Auch das Maß an Privateigentum war umstritten. Einen Hammer und eine Säge als Gemeinschaftsbesitz zu betrachten, fiel wesentlich leichter als die Frage, ob jeder frei über die Kamera oder über die Malutensilien eines anderen verfügen sollte. Obendrein wurde der Besitz eines Luxusgegenstandes wie eine Kamera als fragwürdig angesehen.

Es blieb nicht aus, dass die Euphorie nach kurzer Zeit immer mehr verflog und der eine nach dem anderen ausstieg. Übrig blieben Marisa und ihr Lebensgefährte. Zu ihm hatte er am wenigsten Kontakt gehabt. Er hatte ihn damals als chaotisch und recht grob empfunden, mit Ansichten, die ihm suspekt waren. Deshalb war es gut, dass aus den früheren Träumen nichts geworden war. Er war zugegebenermaßen weitgehend angepasst, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft, wie er selbstironisch zugeben musste.

Eine weitere Leidenschaft Marisas war die Bildhauerei, oder besser gesagt, die Herstellung von Skulpturen aus verschiedenen vorgefundenen Gegenständen. Sie schleppte Baumstümpfe, dicke Taue, Fahrradteile, Kokosnussschalen, Federn ihrer Hühner und alles, was sich bei ihrem Lebensgefährten abstauben ließ, nach Hause. Da sie handwerklich nicht sehr geschickt war und nicht über eine gute Ausstattung an Werkzeugen verfügte, montierte sie die verschiedenen Teile, die eine Skulptur bilden sollten, auf eine recht primitive Art mittels Nägeln, Draht und Band. Sie hatte einen großen Vorrat an angebrochenen Farbdosen und Flakons, die sie von irgendwo her sammelte. Damit bemalte sie ihre Werke. Da es nur selten gelang, einen Abnehmer für diese Gebilde zu finden, wuchs die Sammlung stetig an und war dem Prozess des langsamen Zerfalls preisgegeben. Überall standen und lagen Teile herum, sie hingen an den Ästen der Bäume und zierten den Zaun vor dem Haus. Allmählich erbarmte sich dann die Natur und umschlang viele Werke mit einem Flor aus Schlingpflanzen und Gras.

Er kam mit Marisa ziemlich gut klar, solange es bei einem gelegentlichen Besuch blieb. Umgekehrt besuchte sie ihn nie. Wahrscheinlich war seine angepasste Lebensweise ihr zu kleinbürgerlich. Er merkte immer wieder, wie fremd ihm eigentlich die Welt war, in der sie und ihr Lebensgefährte lebten. Er musste zugeben, dass das zum Teil daran lag, dass er die Sicherheit einer geregelten Existenz brauchte und Angst hatte vor der ungewissen Zukunft, wollte gerne Vorsorge für das Alter betreiben und sicher sein, dass es jeden Monat genügend Geld gab, um sein bequemes Leben ohne plötzliche Einbrüche leben zu können. Dafür hatte er zugegebenermaßen viele große Ideale aufgegeben, war geneigt, wegzusehen, wenn es um soziale Ungerechtigkeiten ging. Revolution war nicht sein Ding. Ihm gingen Schutzbehauptungen, die im Kern besagten, man könne sowieso nichts ändern und die Welt nicht retten, leicht über die Lippen. Ihm war bewusst, dass er in vieler Hinsicht nach dem Motto der drei Äffchen lebte: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Aber solange er sich nicht öffentlich rechtfertigen musste, konnte er damit gut leben.

Als er bei diesen Gedanken angekommen war, beschloss er, von einem Besuch abzusehen und es bei einem kurzen Gruß zu belassen. Ihre Handynummer hatte er ja ...

 

                                                                                                                                          © 2023 Rodion Farjon

In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.

Ich hoffe, die Beiträge machen neugierig auf mehr.

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