„Eindeutig Blut“, sagte Hauptkommissarin Juliane Pflaume-Pullenbach. Vor weniger als einer Minute war sie auf dem Hofgelände angekommen und aus ihrem nagelneuen E-Auto gestiegen. Ein Anruf eines besorgten Bürgers hatte sie hierhin geführt. Er habe einen Schrei und Stöhnen gehört. Zusammen mit dem Dorfpolizisten betrachtete sie die alte Stalltür des verlassenen Hofes. Der Polizist, Herr Norbert Fuchs, ein gutmütiger älterer Herr mit einem Bäuchlein und roten Bäckchen, murmelte etwas von Rostflecken und zog ein großes Taschentuch aus der Hosentasche.
„Nicht anfassen!“ rief Frau pflaume-Pullenbach. Sie schubste den Dorfpolizisten beiseite. Der schaute etwas verdutzt und beleidigt und sagte: „Will ja nur die Nase putzen.“ Dann trat er einige Schritte zurück um entsprechend zu verfahren. Die Hauptkommissarin stülpte sich Einmal-Handschuhe über und verkündete: „Da muss die Spurensicherung ran.“ Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und orderte eine Spurensicherungstruppe. „Ja, hier am alten Hof in der Nähe des stillgelegten Sägewerks.“ Danach schritt sie zurück zum Auto und setzte sich hinein, um auf die Verstärkung zu warten.
Herr Fuchs schaute sich um. Er kannte den Hof von früher, als er noch bewirtschaftet wurde. Obwohl alles ziemlich verfallen war, konnte man ihn betreten. Von Zeit zu Zeit besuchte die Dorfjugend das Gebäude, um kleine Abenteuer zu erleben. Dann wurde er von irgendeinem Spaziergänger oder Dorfbewohner alarmiert, dass Kinder dort spielten. Die Angst vor einem Unglück oder einem Feuer war groß. Herr Fuchs beschloss, sich einmal genauer umzusehen. Er schlenderte in Richtung des Wohnhauses. Die Tür war verschlossen, aber mehrere Fenster waren gebrochen und es war somit ein Leichtes, ins Haus zu gelangen. Der Polizist schaute durch ein kaputtes Fenster hinein. Nichts hatte sich verändert, seit er sich beim letzten Alarm umgeschaut hatte. Er lief weiter, zum hinteren Ende des Gebäudes. Er musste sich einen Weg durch Unkraut und verwilderten Beerensträuchern bahnen. Dabei fiel ihm auf, dass er nicht der Erste war, der hier durchgekommen war. Um keine Spuren zu verwischen, watete er durch ein Feld von Brennnesseln und musste somit einen Umweg machen. Er hörte, wie sich vorne an der Straße Frau Pflaume-Pullenbach mit den gerade angekommenen Leuten von der Spurensicherung unterhielt. Vor ihm lag jetzt der hintere Giebel des Stallgebäudes. Darin war eine Tür, die normalerweise zu war. Das Vorhängeschloss war abgerissen, was keine große Mühe gekostet haben konnte, da das Holz des Türrahmens so morsch war, dass es beinahe von allein auseinanderfiel.
Herr Fuchs schritt leise zur Tür und spähte hinein. Es war schummrig im Stall. Seine Augen mussten sich erst noch an die Dunkelheit gewöhnen. Dann stapfte er über die Schwelle und betrat den großen Raum, in der früher die Landmaschinen standen. Zur rechten Hand lagen hoch aufgestapelt Heuballen. Sie waren der beliebte Spielort der Dorfkinder. Und diesmal waren sie das etwas staubige Liebesnest eines jungen Pärchens, dass sich oben auf einem Stapel Heuballen eingerichtet hatte. Sie waren so in ihrem Glück versunken, dass sie den Polizisten nicht bemerkten. Herr Fuchs beschloss, ihnen den Spaß nicht zu verderben und zog sich vorsichtig zurück.
„Jetzt schnell zur Straße!“, dachte er. „Nicht, dass die ganze Meute in den Stall stürmt, um den Mörder zu verhaften.“ Er beeilte sich, zu Frau Pflaume-Pullenbach und den Kollegen der Spurensicherung zurückzukommen. Als er beim Scheunentor zurückkam, waren die Kollegen gerade dabei, ihre Sachen zu packen. Verwundert fragte Herr Fuchs sich, weshalb die Aktion abgeblasen wurde, bevor sie so richtig angelaufen war. Sein fragender Blick in die Runde wurde von Frau Pflaume-Pullenbach beantwortet: „Eindeutig Rost, wie ich schon sagte. Falscher Alarm. Das nächste Mal, Herr Fuchs, besser zuerst genau hinsehen, bevor sie die ganze Maschinerie in Bewegung setzen.“
Damit stieg sie in ihren Wagen und rollte lautlos vom Hof.
© 2021 Rodion Farjon
(Zeichnung von Hartmut Hedemann)