Es ist inzwischen eine abgedroschene Phrase, und es hätten schon längst entsprechende Taten folgen müssen:
„Corona wirkt wie ein Brennglas, bestehende Probleme werden verstärkt sichtbar.“
Wäre es doch ein Brennglas! Dann würde es endlich einmal brennen! Aber abgesehen von der wohlfeilen Bemerkung tut sich herzlich wenig. Dabei schwelt es schon lange im Untergrund, von der Politik weitgehend ignoriert und von vielen nicht als ihr eigenes Problem gesehen. Ist es auch auf dem ersten Blick nicht. Den meisten geht es doch (noch) gut, und für sie gilt in abgemilderter Form der Spruch: „Après nous le déluge“.
Wo drückt der Schuh? Er drückt an vielen Stellen. Aber viele Hühneraugen haben dieselbe Ursache. Und die ist nicht neu, sondern liegt schon Jahrzehnte zurück. Aber anfangs war die Einstellung der Verantwortlichen eher geprägt von Unwissen und kultureller Blindheit.
Es geht um die Integration und die Chancen von Menschen, die ohne Schuld ein Leben führen müssen, in dem die Möglichkeiten den sozialen und gesellschaftlichen Status Quo zu verändern durch die widrigen Umstände erschwert werden. Es geht um die „bildungsfernen Schichten“, um sozial Benachteiligten und um Einwanderer. Viele Aspekte, wie zum Beispiel die Wohnsituation, die finanziellen (Un)Möglichkeiten und die niedrige Bildung machen eine Teilnahme an gesellschaftliche Aktivitäten fast unmöglich. Die Mitgliedschaft in Vereinen kostet Geld. Die benötigte Ausrüstung ebenso, von Vereinsaktivitäten wie Fahrten noch abgesehen. Der Schulunterricht ist frei. Wer aber drei Kinder gleichzeitig mit dem Nötigen ausstatten muss, weiß, dass das ein Loch in die Kasse reißt. Und die alljährliche Klassenreise macht das Problem nicht geringer. Zu erwarten, dass in diesen Familien Zeit und Muße bleiben für Kulturelles ist viel verlangt. Wer täglich an Grenzen stößt hat bald keine Kraft mehr und verharrt im vielgescholtenen Fernsehkonsum.
Was ist nun die Folge dieser Umstände? Die Folge ist, dass die Kinder oft zu wenig Unterstützung und Hilfe bekommen beim Lernen. Viele Eltern können gar nicht helfen, oft fehlt es an Deutschkenntnisse. Situationen, in denen die Kinder für die Eltern dolmetschen müssen, sind gang und gäbe. Auch bei gutem Wille seitens der Eltern bleibt eine große Benachteiligung.
Eine weitere Folge ist eine freiwillige oder unfreiwillige Abschottung. Da die Kommunen mit dem Steuergeld sparsam umgehen müssen bleibt für die Zuweisung von Sozialwohnungen nur das „Armenviertel“. Ausländische Mitbürger neigen dazu, die Nähe von Familien mit der gleichen Herkunft zu suchen, Großfamilien wollen ihre gewohnte Struktur aufrechterhalten. Letzteres muss nicht unbedingt vom Nachteil sein. Aber so manche Tradition steht der Emanzipation und dem persönlichen Freiheitsrecht abweisend gegenüber.
Wo soll nun angesetzt werden, um das Problem der Chancenungleichheit und der Entfremdung zu bekämpfen? Falsch wäre, dem gewohnten Denkmuster zu folgen und nach der einen und einzigen eindimensionalen Lösung zu suchen. Die gibt es nicht, eben so wenig wie eine schnelle Lösung. Der Ansatz muss sein, die verschiedenen Problembereiche mit den für sie adäquaten Mitteln anzugehen. In sozialer Hinsicht muss die Wohnsituation verbessert werden und in der Infrastruktur investiert werden. Soziale Dienste vor Ort, Sozialarbeiter in den Familien, nicht als Kontrolleure, sondern als Helfer bei der Lösung alltäglicher Fragen und Probleme. Gleichzeitig muss eine Mitwirkung der Betroffenen eingefordert werden. Die traditionellen Familienstrukturen müssen dort aufgebrochen werden, wo sie dem Persönlichkeitsrecht entgegenstehen. Vor allem Frauen und Mädchen müssen in ihre Rechte gestärkt werden, auch wenn man sich deshalb mit Widerstand auseinandersetzen muss. Die Unterstützung durch aufgeschlossene Kreise wie moslemische Institutionen muss eingebunden werden. Schuldenberatung muss eine Selbstverständlichkeit sein. Jugendliche müssen direkt angesprochen werden und Angebote wahrnehmen können, ohne dass finanzielle Barrieren den Zugang erschweren. Das alles muss mit reichlich Personal möglich gemacht werden.
Im Bildungsbereich muss sehr viel mehr auf die Förderung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen gesetzt werden. Erster Ansatz: deutlich mehr Personal und eine optimale Ausstattung in den Krippen und Kindergärten. In der Schule kleinere Klassen, im Primarbereich nicht größer als zwanzig Kinder, in den weiterführenden Schulen höchstens fünfundzwanzig. Weiter eine deutliche Aufstockung des Personals, nicht nur bei den Lehrkräften, sondern auch bei den anderen pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Optimale Ausstattung und flexibel einsetzbare Räumlichkeiten. Durchgehende Ganztagsbetreuung mit Mittagessen, eine „Hausaufgabenhilfe“, die die Hausaufgaben im Primärbereich überflüssig macht. Gezielte Sprachförderung für Kinder mit anderer Muttersprache durch Lehrpersonal, dass wenigstens die betreffende Sprache versteht. In dem Sekundarbereich gezielter „Lebensunterricht“: Welche Rechte hat jeder Mensch, welche Pflichten, wie funktionieren Behörden, welche Aufgaben gibt es als erwachsene Person zu bewältigen, wo finde ich Hilfe. Hier muss der Umgang mit digitalen Medien einen großen Raum einnehmen. (Nebenbei gefragt: werden angehende Lehrkräfte auf diese Aufgaben vorbereitet?)
Der Schulbetrieb wird sich aus dem traditionellen strammen Korsett des Dreivierteltaktes befreien müssen. Die traditionelle Aufteilung in Fachstunden ist schon lange überholt. Das setzt eine andere Ausbildung im Bereich der Pädagogik voraus, die auf Kooperation setzt. Auch die starre Einteilung in Jahrgangsklassen muss aufgelöst werden. Auch hier werden die digitalen Medien eine große Rolle spielen.
Das alles wird erst langsam Wirkung zeigen. Doch es ist, um ein Unwort der Ära Merkel aufzugreifen, „alternativlos“. Wenn die Gesellschaft weiterhin teilnahmslos zusieht, wie sich ganze Gruppen aus dem gesellschaftlichen Zusammenhalt verabschieden, weil sie keinen Sinn mehr in die Versprechungen der Politik sehen, müssen wir uns über das Anwachsen der Gruppe der Desinteressierten und Radikalisierten nicht wundern. Eine demokratische Gesellschaft, die auf die Errungenschaft der freiheitlich demokratischen Grundordnung wert legt, kann nur bestehen, wenn die Menschen von dem Funktionieren dieses Staates überzeugt sind. Sie müssen nicht nur Rechte haben, sondern ihre Rechte auch bekommen.
Der Staat muss ihnen aktiv zu den gleichen Chancen verhelfen. Im eigenen Interesse.