Das Weltgeschehen ist chaotisch. Es finden gleichzeitig viele Entwicklungen statt, die sich alle gegenseitig beeinflussen. Einige sind neu und verlaufen vergleichsweise kurzfristig und schnell, andere haben eine lange Vorgeschichte. Da ist zu überlegen, wie man mit den entstehenden Problemen umgehen soll.
Die Corona-Epidemie ist eine der kurzfristigen Herausforderungen, auf die wir eine halbwegs funktionierende Antwort gefunden haben. Wenn auch die Ansteckungsgefahr bleibt, scheint das Problem beherrschbar zu sein. Obwohl es einige länger anhaltende Folgen gibt, wie der wirtschaftliche Einbruch und die verstärkte Ungleichheit der Bildungschancen lassen sich die Schäden im Großen und Ganzen beheben.
Mit einem blauen Auge davon gekommen…, oder?
Betrachtet man das Problem globaler, so wird deutlich, dass der vermeintliche Sieg nur eine gewonnene Schlacht ist. Erstens sieht die Situation anderswo in der Welt gar nicht so rosig aus, zweitens ist die Ursache keinesfalls beseitigt. Wir machen weiter mit der Vernichtung unserer aller Lebensgrundlagen. Die Folge wird ein starker Anstieg epidemischer Ausbrüche sein. Und keiner garantiert, dass es, wie bei Corona geschehen, in kurzer Zeit einen Impfstoff gibt. Corona ist, geschichtlich gesehen, eigentlich ein ziemlich harmloses Phänomen. Es kann noch ganz anders kommen. Und wir tun immer noch so, als hätten wir genug Zeit und können weiter machen wie bisher. Mit „wir“ meine ich vor allem die Industriestaaten, die den Löwenanteil an Ressourcen verbrauchen und die Erde ausbeuten. Wir wollen zurück zur Normalität. Zu welcher Normalität? Zu dem Zustand, der uns die Probleme beschert hat?
Die Reaktion erscheint also eher ziemlich blauäugig…
In der Ukraine wird heftig gekämpft. Und hier wird heftig debattiert. Da streitet man sich wochenlang darüber, ob bestimmte Waffen geliefert werden sollen und ob man überhaupt Waffen liefern soll. Man solle doch mit Putin reden und den Krieg beenden. Einige neigen dazu, einen Nuklearkrieg an die Wand zu malen. Und man solle bloß vermeiden, Kriegspartei zu werden. Währenddessen träufelt Putin noch extra Gift in die Wunde. Er nutzt geschickt jede Schwäche des Westens aus. Wie es auch sei, die halbherzige Unterstützung der Ukraine wird wohl dazu führen, dass sie als Bauernopfer endet. Und dann hoffen viele, dass es einen wie auch immer gearteten Frieden gibt und dass man zur Tagesordnung übergehen kann.
Mit einem blauen Auge davon gekommen…, oder?
Auch hier bietet die globale Betrachtung ein ganz anderes Bild. Im Kern geht es um die Glaubwürdigkeit und um den Machterhalt der westlichen Welt. Immer wieder wird argumentiert, dass es gilt, die hohen Ideale von Freiheit und Menschenrechten zu verteidigen. Nun, das ist unzweifelhaft ein hehres Ziel. Wenn aber das Verhalten eben dieser westlichen Welt zu oft von anderen Interessen geleitet wird und dabei die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, muss man sich nicht wundern, dass Staaten, die einer anderen Ideologie anhängen, die Glaubwürdigkeit des Westens anzweifeln und ihre Vorteile aus den Widersprüchen ziehen. In dieser Hinsicht hat der Westen massiv an Überzeugungskraft verloren. Und in Diktaturen wie Russland und China gibt es eine sehr wirksame Propaganda. Russland hat sich unter Putin zurückentwickelt zur Diktatur im Stile der ehemaligen Sowjetunion. Das ist kein Wunder, Putin kennt das System als Mitarbeiter des KGB sehr gut. Obendrein hat er von der Doktrin aus der Zeit des kalten Krieges nie abgelassen. Er verkündet bei jeder Gelegenheit, dass es sein Ziel ist, ein Gebilde wie die ehemalige Sowjetunion wiederherzustellen. Er hat sich vorgenommen, die Länder, die nach dem Zerfall des Ostblocks selbstständig wurden und sich von Russland abgewandt haben, zurückzuholen in die Einflusssphäre Russlands. Daher sind unsere Appelle für einen Waffenstillstand wirkungslos.
Putin hat begriffen, dass der Westen sich wie ein zahnloser Tiger verhält, den man mit ein paar Drohungen in Schach halten kann. Die Strategie ist detailliert ausgeklügelt, man muss fast schon das taktische Geschick bewundern. Und er weiß genau, dass eine gezielte Drohung die erwünschte Wirkung erzielt. Im Westen gilt das Kredo, bloß nicht in den Krieg hineingezogen zu werden. Das liefert Putin alle Optionen frei Haus. Er kann frei entscheiden, ob der Westen kriegführende Partei ist. Und entsprechend nutzt er die Möglichkeiten geschickt aus, wissend, dass es in Europa immer einige unsichere Kantonisten gibt, die Beschlüsse blockieren oder so weit verwässern, dass die Wirkung fast gleich Null ist. Bei dieser Konstellation wird man ehrlicherweise einsehen müssen, dass die Ukraine das Nachsehen hat.
Mit einem blauen Auge davon gekommen…, oder?
Eher ziemlich blauäugig. Selbst dann, wenn Putin die Verfolgung seiner Ziele vorerst ruhen lässt, ist das Ansehen des Westens arg in Mitleidenschaft gezogen. An der anderen Seite der Welt sitzt jemand, der nur darauf wartet, wie dieser Konflikt ausgeht.
Hat Putin die etwas verschrobene, rückwärtsgewandte und naive Idee, das alte russische Reich in seiner Herrlichkeit und Größe wiederauferstehen zu lassen, so sind die Pläne der chinesischen Führung auf die Zukunft gerichtet. Schon seit vielen Jahren wird sehr umfangreich daran gearbeitet, die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika zu übernehmen, und zwar mit einer sehr klugen Strategie. Nicht der schnelle Erfolg, sondern der lange Atem ist das Mittel der Wahl. Auch wird nicht auf offene Konfrontation gesetzt, wenigstens so lange nicht, wie China die andere Taktik als erfolgversprechend ansieht. Und sie ist es: China hat in weiten Teilen der Welt, wie zum Beispiel in Afrika, Zugriff auf Rohstoffe. Als Gegenleistung hilft es bei dem Ausbau der Infrastruktur. Gleichzeitig geht es darum, diese Länder vom Westen fernzuhalten und ein globales Netz der Abhängigkeiten zu schaffen. Über Jahrzehnte hat China an die Erlangung der technologischen Selbstständigkeit gearbeitet. Und in ihrer Gier beim Anblick des riesigen Absatzmarktes haben sich vor allem die Europäer einwickeln lassen, um jetzt zu merken, dass die im Westen vorherrschende Idee der freien Marktwirtschaft von China überhaupt nicht geteilt wird. Die Freiheit lässt China nur in einer Richtung gelten. Firmen, die in China produzieren wollen, haben nur wenig Rechte. Sie verkaufen sich praktisch mit Haut und Haar. Der Westen ist bei vielen technologischen Produkten von China abhängig. Diktaturen haben da den Vorteil, dass sie die Spielregeln nach Belieben anpassen können. Widerspruch gibt es nicht, und wenn doch, gibt es drastische Maßnahmen.
Der Ausgang des Krieges in der Ukraine ist für China höchst interessant. Er könnte eine Blaupause liefern für den Taiwan-Konflikt. Wie viel die vollmündigen Beteuerungen der Vereinigten Staaten von Amerika hinsichtlich der Verteidigung der Freiheit Taiwans wert sind bleibt abzuwarten. Das Schicksal der Sonderverwaltungszone Hongkong lässt Zweifel aufkommen. Da konnte China schon mal üben.
Aber was tun? Ich habe meine Meinung hinsichtlich dieser Konflikte, für die es keine Patentlösung gibt. Und ich habe ebenfalls eine Überzeugung: Ohne Einigkeit, Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Konsequenz wird der Westen machtlos zusehen müssen, wie die Welt neu geordnet wird. Demokratie und Menschenrechte werden beileibe nicht überall auf der Welt als erstrebenswerte Grundlagen fürs Zusammenleben angesehen. Umso mehr müssen die Länder, für die diese Werte zum Kern ihrer Ordnung gehören, durch ihr Verhalten zeigen, dass es ihnen damit Ernst ist.
Ob es dabei mit einem blauen Auge getan ist?
Über all diesen Niederungen der menschlichen Existenz schwebt dann noch die schon kurz erwähnte Klimakatastrophe. Je mehr Hungersnöte, kriegerische und wirtschaftliche Konflikte auf der Welt herrschen, um so unwahrscheinlicher wird es, dass die Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels mit vollem Einsatz in Angriff genommen wird. Die akuten und heftigen Bedrohungen durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einen Krieg werden die Bedrohung der langfristigen und vergleichsweise schleichenden Veränderung durch den Klimawandel immer wieder aus unserer Wahrnehmung verdrängen. Dabei ist es wohl sicher, dass gerade durch den Klimawandel die Anzahl der kriegerischen Auseinandersetzungen zukünftig zunehmen wird. Es lässt sich nicht abschätzen, wie die Entwicklung im Einzelnen weitergeht. Aber all zu rosig sind die Aussichten nicht.
Diese Erde ist nicht für den Menschen gemacht.
Hoffentlich zieht sie daraus nicht die Konsequenzen.