Aus der Familiengeschichte-
die Lebensläufe einiger Familienmitglieder


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Katerfrühstück 

 
Es war hell. Das Licht brannte in den Augen. Dabei war es nur das normale Tageslicht, die Sonne schien nicht direkt ins Zimmer. Sie war gerade aufgewacht, musste aber zuerst erfassen, was passierte. Das Gehirn kam nicht sofort auf Touren, das, was die Augen registrierten, war noch unzusammenhängend. Ein Geräusch hatte sie wohl geweckt, aber es war nicht gleich klar, woher es kam und was es genau war. Dann aber wurde die Koordination der Sinnesorgane und die ihrer Gliedmaßen sehr schnell besser. Sie hörte den Kater klagend und fordernd maunzen. Das war es wohl gewesen, dass sie geweckt hatte. Gleichzeitig bemerkte sie, dass ihr Kopf brummte und die Bewegung ihrer Gliedmaßen ein wenig unsicher war. Ihr war etwas schwindelig, sie musste sich langsam bewegen. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes und versuchte, einen klaren Gedanken zu formulieren.
Herrje, da war der gesellige Abend doch wieder aus dem Ruder gelaufen. Sie war unzufrieden mit sich und mit dem, was gewesen war. Sie ärgerte sich, dass sie abermals zu spät die Notbremse gezogen hatte und sich vom allgemeinen Trubel hatte mitreißen lassen. Sie befürchtete, sich mal wieder blamiert zu haben. Das heißt, sie hatte für sich selber das Gefühl, die Kontrolle zeitweise abgegeben zu haben. Hatten die anderen etwas gemerkt? Und wenn ja, wie hatten sie es aufgenommen? Hatten sie es für einen normalen Schwips gehalten und sich wohlwollend amüsiert, oder war sie ihnen peinlich geworden? Sie konnte sich nicht erinnern, wie der Abend geendet hatte. Ihre Erinnerung setzte wieder ein an dem Punkt, an dem Werner sie untergehakt hatte und sie zu seinem Auto führte. Von der Fahrt hatte sie nicht viel mitbekommen, dafür drehte sich alles zu viel. Sie musste sich Gott sei Dank in einem solchen Zustand nicht übergeben. Das wäre die endgültige Blamage gewesen. Sie konnte sich nicht genau erinnern, wie sie ins Haus gelangt war. Werner wird ihr wohl den Schlüssel abgenommen und aufgeschlossen haben. Aber ob er ihr auch noch weitergeholfen hatte, wusste sie nicht. Es war ihr ebenso nicht klar, wie sie es ins Bett geschafft hatte. Als sie mit ihren Gedanken so weit gekommen war, wurde ihr heiß. Hatte Werner … Sie registrierte jetzt, dass sie noch halb bekleidet war, mit Socken, BH und langer Hose. Das ließ auch nicht unbedingt auf das Geschehen von gestern Nacht schließen. Sie war wütend, dass es abermals passiert war.
Jetzt hörte sie den Kater wieder rufen. Da musste sie nun zuerst mal für Abhilfe sorgen. Sie lief schwerfällig in die Küche, noch nicht ganz sicher in ihren Handlungen. Ihr Kopf schmerzte und ihr Körper war steif und ungeschickt. Während der Kater um sie herumstrich, öffnete sie den Kühlschrank und nahm die angebrochene Büchse mit Futter. Aus der Schublade nahm sie einen Löffel und leerte den Inhalt der Dose in den Futternapf. Als sie den auf den Boden stellte, stürzte der Kater sich gierig auf seine Mahlzeit. Sie strich ihn über den Rücken und an dem hochgestellten Schwanz entlang bis zum Ende. Als sie sich aufrichtete, musste sie das Gleichgewicht wieder finden, ihr war kurz schwindelig und im Kopf klopfte es, als wäre da ein Specht am Gange. Der Tag würde nicht viel Positives bringen, das stand fest. Und wieder ärgerte sie sich über ihre geringe Selbstbeherrschung.
Es war nach langer Zeit das erste Mal gewesen, dass sie sich mit den anderen getroffen hatte. Zuvor hatten sie sich regelmäßig verabredet und sich in einer mal kleineren und mal größeren Gruppe in dem immer gleichen Restaurant getroffen. Es war eine gemischte Truppe, etwa gleich viele Männer wie Frauen, was auch daran lag, dass die meisten verheiratet oder fest liiert waren. Sie war über ihren damaligen Freund hinzugekommen. Als sie sich getrennt hatten, verblieb sie in der Gruppe, ihr Partner zog ins Ausland und pflegte wenig Kontakt mit ihnen. Ihre Freundin versuchte von Zeit zu Zeit, sie mit einem Mann zu verkuppeln, aber ihr war nicht nach einer neuen Verbindung und Männer wie Werner waren zwar nett, aber es blieb bei einer lockeren Freundschaft. Ob Werner mehr wollte, konnte sie nicht sicher beurteilen. Er war sehr zurückhaltend freundlich, fast etwas verlegen und unterschied sich in seinem Verhalten ihr gegenüber nicht von den anderen Männern in der Runde. Wenn er sie gestern ins Bett gebracht hatte, bewies das nur seine grundsolide Anständigkeit. Aber vielleicht lag sie auch falsch, und er hatte sich an der Tür verabschiedet, als er sicher war, dass sie im Hause war.
Die gestrige Runde hatte anfangs aus sieben Leuten bestanden. Ines war etwas später hinzugekommen. Sie hatten deshalb mit dem Essen gewartet und vorweg einiges getrunken. Es war Usus, dass jeder sein Essen und die Getränke selber zahlte. Nur wenn einer eine Flasche Wein spendierte, war das anders. Die Gespräche variierten inhaltlich stark. Mal ging es mehr um allgemeine Themen, mal berichteten einige von privaten Erlebnissen, zum Beispiel vom Urlaub. Es gab genügend Anlass, sich fröhlich zu unterhalten und dabei zu essen und zu trinken. So war auch gestern der Abend abgelaufen. Sie waren noch lange sitzen geblieben und beschlossen, zum Abschluss in eine Bar zu gehen. Da muss sie dann wohl den Überblick verloren haben, dachte sie. Wie lange sie dort noch gesessen haben, konnte sie nicht sagen. Es muss aber spät geworden sein, jedenfalls spät genug, um die Kontrolle zu verlieren. Nicht, dass sie es darauf angelegt hatte, sich zu betrinken. Aber es kam der Zeitpunkt, an dem sie es nicht schaffte, vernünftig zu bleiben. Es war der Moment, in dem sie dachte, es wäre doch nicht schlimm, wenn sie noch etwas trinken würde. Da gab sie dem Druck nach, der darin lag, mit den anderen mitzuhalten. Nicht so sehr, was die Menge anginge, sondern was den Ablauf des Abends betraf. Solange alle tranken, trank sie mit.
Und jetzt saß sie da. Wieder einmal, mit einem schlechten Gewissen und verärgert über ihre eigene Dummheit. Ein Glück im Unglück war, dass sie an diesem Tag keine Verpflichtungen hatte und niemanden erwartete. Da fiel ihr auf, dass sie noch nicht ein einziges Mal auf die Uhr geschaut hatte. Da sie keine Armbanduhr trug, musste sie erst ihr Telefon suchen. Sie hatte es gestern leise gestellt und somit auch noch nicht mitbekommen, ob sich jemand nach ihr erkundet hatte. Es war schon nach neun. Kein Wunder, dass der Kater nach seinem Essen gerufen hatte. Sie raffte die Kleidungsstücke, die sie gestern getragen hatte, zusammen und stopfte sie in den Wäschekorb.
Jetzt musste sie zuerst unter die Dusche, um wieder einigermaßen fit zu werden. Aber vorher trank sie ein großes Glas Wasser, um den Durst zu löschen und den faden Geschmack loszuwerden. Sie legte sich frische Wäsche und bequeme Kleidung hin und ließ warmes Wasser über ihren Kopf und Körper laufen. Zum Schluss drehte sie den Thermostat auf kaltes Wasser. Der Schock ließ sie zusammenzucken, aber sie hielt noch einige Zeit durch. Danach fühlte sie sich etwas aufgemuntert und trocknete sich ab. Wieder überlegte sie, was die anderen mitbekommen und gedacht haben könnten. Aber es war nun einmal passiert und wenn was wäre, würde sie das schon erfahren. In der Küche machte sie sich einen Kaffee. Ihr stand nicht nach Essen, sie hatte das Gefühl, dass ihr Magen noch nicht bereit war, erneut an die Arbeit zu gehen. Sie nahm aber das Glas mit sauren Gurken aus dem Kühlschrank und zwang sich, eine Gurke zu essen. Mehr ging einfach noch nicht. Das würde sich im Laufe des Tages von selbst ergeben, da machte sie sich keinen Kopf. Sie würde den Kater schon kleinkriegen.
Ihr Telefon meldete sich. Werner hatte ihr eine Nachricht geschrieben und fragte, wie es ihr ging. Er machte keine Anspielung auf das gestrige Geschehen. Feiner Kerl. Aber nun wusste sie andererseits nicht viel mehr als vorhin. Ihn einfach fragen, wäre jedoch unmöglich. Sie überlegte einen Moment, wie sie ihm die gewünschten Informationen entlocken könnte, ohne sich zu blamieren. Aber dann beschloss sie, dass sie sich schon genug bloßgestellt hatte. Ihre Antwort fiel deshalb nur kurz aus, etwas zu kurz vielleicht. Sie bedankte sich für die Nachfrage, aber nicht für die gestrige Hilfe. Und sie schwor sich, dass es das letzte Mal gewesen war, dass sie nicht allein nach Hause fand.
Der Kater hatte seinen Napf leergefressen und gab zu erkennen, dass er hinaus möchte. Als sie die Terrassentür öffnete, schlüpfte er, als die Tür gerade mal weit genug auf war, um sich hinauszudrängen, nach draußen. Sie stellte die Tür auf kipp und setzte sich aufs Sofa. Sie beschloss später Ines anzurufen, in der Hoffnung, scheinbar ganz beiläufig fragen zu können, wie diese den Abend erlebt hatte.

   © 2022 Rodion Farjon

In lockerer Reihenfolge werde ich hier über meine Aktivitäten Auskunft geben, Texte, Gedichte, Sprüche und Bilder veröffentlichen, die neben den Beiträgen auf meiner Homepage den aktuellen Stand meiner Tätigkeiten wiederspiegeln.

Ich hoffe, die Beiträge machen neugierig auf mehr.

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